Deutschlands größte Tonträger-Produzenten haben sich auf eine gemeinsame Plattform für die Online-Vermarktung von Musiktiteln geeinigt. Das Projekt „Phonoline“ (Arbeitstitel) soll im Herbst starten. Damit reagiert die Musikindustrie auf die enormen Umsatz-Einbrüche der vergangenen Jahre.

Nach Angaben des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft ist der Umsatz der deutschen Tonträgerindustrie 2001 und 2002 jeweils im Vergleich zum Vorjahr um etwa 12,5 Prozent zurückgegangen (siehe Grafik). Von Januar bis Juni dieses Jahres sank die Summe der verkauften CDs, Musik-Cassetten und Venyl-Scheiben gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum erneut um 16,3 Prozent auf 80,4 Millionen. Besonders stark brach im ersten Halbjahr das Geschäft mit den Hit-Compilations ein: Für den Absatz von Alben mit Mischungen beliebter Hits musste ein Minus von 47 Prozent registriert werden. Als Auslöser für die Krise hat die Branche außer dem Internet vor allem die CD-Brenner ausgemacht: Bereits 2001 waren mit Programmen wie Nero Burning oder Clone CD erstmals mehr Tonträger kopiert worden (182 Millionen) als im selben Jahr über die Ladentheke gingen (172 Millionen). Im vergangenen Jahr klaffte die Schere noch weiter auseinander: Während nur noch166 Millionen CD-Alben verkauft wurden, lag die geschätzte Zahl der CD-Kopien bei 259 Millionen.

 

Ü Deutscher Tonträgermarkt in der Krise

 

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Ü Branche sucht neue Erfolgsrezepte

 

Seit sechs Jahren gehen die Tonträgerumsätze in Deutschland zurück: Erst sanken sie ganz langsam, später sogar zweistellig. Die satten Gewinne aus den 90-er Jahren sind Vergangenheit. Den Top-Labeln fehlt es an zugkräftigen Stars und klugen Rezepten für den Weg aus der Krise. Längst haben auch die Branchen-Riesen Universal, Sony, Time Warner, Bertelsmann Music Group (BMG) und EMI, die mehr als 70 Prozent der weltweiten Branchenumsätze auf sich vereinen, die Kostenbremse gezogen. EMI trennte sich im vergangenen Jahr von 1800 Mitarbeitern, BMG und Time Warner hatten bereits im Jahr zuvor damit begonnen, die ersten von inzwischen mehr als jeweils 1000 Stellen zu streichen.

Parallel zum Sparen hat die Suche nach neuen Superstars begonnen – notfalls per Fernsehshow (4 ausführlicher Artikel). Mehr als 8700 neue Pop-CD-Alben wurden im vergangenen Jahr auf den Markt gebracht. 90 Prozent aller Neuveröffentlichungen aber gelten in der Branche als Flops. Kassenknüller wie Grönemeyers „Mensch“ – mit mehr als 3 Millionen Verkäufen erfolgreichstes Produkt des vergangenen Jahres – sind selten. Allmählich rächt es sich, dass die großen Plattenlabels ihre so genannten A&R-Aktivitäten (Artists und Repertoire) stark vernachlässigt haben. Seit in den 90-er Jahren neue Musikrichtungen wie Techno oder HipHop entwickelt wurden, fehlt es der Branche an frischen Akzenten.

 

Ü Apples „Music-Store“ als Vorbild

 

Um nicht noch mehr Marktanteile an Online-Tauschbörsen wie Gnutella oder Kazaa zu verlieren, hat sich die deutsche Musikindustrie nun auf die Online-Plattform Phonoline geeinigt. Die Chefs von Universal, Warner Music, Sony, BMG und EMI stellten das Projekt in der vergangenen Woche während der Kölner Branchemesse PopKomm vor. Dabei handelt es sich nicht um ein direkt an Endkunden gerichtetes Angebot, sondern um eine Verkaufsplattform, die in bereits existierende Online-Shops integriert werden soll. Verhandelt wurde bereits mit großen TV-Programmanbietern, aber auch mit AOL und T-Online, Amazon und Media Markt oder Karstadt. Erhältlich sind einzelne Titel, aber auch ganze Alben, die vom Nutzer auch auf CD gebrannt oder als MP3-Files genutzt werden dürfen. Allerdings schützt ein digitales Wasserzeichen die Anbieter davor, dass Dateien anonym via Internet weiterverbreitet werden können. Den Preis sollen die einzelnen Online-Shops selbst festlegen können. Nach Recherchen des Spiegel soll der Preis pro Musiktitel bei 99 Cent liegen.

 

Die konkreten Preismodelle können alle Online-Anbieter schließlich selbst gestalten, sogar Preisoffensiven mit nur 79 Cent pro Datei sind im Gespräch. Sogar die Einkaufspreise sollen die einzelnen Vermarktungsplattformen getrennt aushandeln können. Durch dieses System will sich Phonoline aller Vorwürfe erwehren, ein Anbieter- oder Preiskartell zu installieren. Musiksites und Pop-Portale erhalten die virtuelle Ware von der Hamburger PhonoNet GmbH, die der deutschen CD-Industrie bereits seit 1991 als Warenwirtschaftssystem für etwa 120 Labels zur Verfügung steht. Das technische Rückrat für Abrechnung und Kundenservice stellt die Deutsche Telekom AG mit ihrer UDS-Plattform zur Verfügung (Universal Delivery System). Angeboten werden vier Online-Zahlungsarten: per Kredit- oder Guthabenkarte, per Lastschrift oder einfach per Telefonrechnung.

 

Ü 100.000 Titel im Angebot

 

Nur ein Geheimnis haben die Betreiber von Phonoline bislang nicht gelüftet: das Preismodell. Als Vorbild dürfte wohl der Music-Store von Apple dienen, bei dem jeder Song 99 Cent kostet. 65 Cent davon landen jeweils bei den Herstellern und Interpreten. Die erst im Mai gestartete Musik-Offensive von Apple-Chef Steve Jobs stieß bislang auf so viel Akzeptanz wie sonst kein anderer virtueller Plattenladen im weltweiten Netz. Obwohl Apple auf dem amerikanischen PC-Markt nur etwa 5 Prozent Marktanteil behauptet, wurden bereits in der ersten Woche eine Million Musikdateien verkauft. Nach zwei Monaten waren etwa fünf Millionen digitale Songs heruntergeladen worden. Weil das Apple-Vorbild bislang auf die USA beschränkt ist, könnte Phonoline nach einem ähnlichen Modell in Europa rasch zum Marktführer werden. Mit mehr als 100.000 Titeln soll Phonoline noch besser sortiert sein als Jobs Music-Store. In den kommenden zwölf Monaten könnte das Angebot auf mehr als eine Million Titel erweitert werden, hieß es während der PopKomm, und die Betreiber wollen binnen eines Jahres mindestens 30 Millionen Endverbraucher locken. Der Konkurrenzdruck ist groß: Bereits im November will Apple seinen Music Store nämlich auch in Deutschland eröffnen. Außerdem bietet das Unternehmen OD2 (On Demand Distribution) bereits seit einiger Zeit in Deutschland Musiktitel aller großen Labels (vorerst mit Ausnahme von Sony) zum Herunterladen an, die über die Online-Plattformen von Karstadt, MTV oder Tiscali bezogen werden können.

 

Ü Mehr Daten zum Tonträgermarkt finden Sie im Download-Bereich „Daten & Fakten“.

Ü Eine ausführliche Analyse zum Thema Musikindustrie findet sich auch im Buch Musikfernsehen in Deutschland.