Zuschauerforschung und die Messung von Marktanteilen im Rundfunk werden immer komplizierter und komplexer. Die Schaffung neuer Distributionskanäle und Spartensender sowie die Fragmentierung des Publikums stellen an Sozialforschung und Messgeräte höchste Anforderungen.

Tage wie der 4. Juli 2006 kommen nur noch ganz selten vor: Beim Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft saßen in Deutschland 29,66 Millionen Zuschauer vor den TV-Geräten und sicherten dem ZDF einen Marktanteil von 84,1 Prozent. Da geraten die verantwortlichen Programmmacher gerne ins Schwärmen. Bei sportlichen Großereignissen wie Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften ist es fast wieder so wie früher: Das Massenmedium Fernsehen wird zum Publikumsmagneten, und einzelne Sendungen avancieren zum Gesprächsthema einer ganzen Nation. Das aber ist immer seltener der Fall.

In den vergangenen zehn Jahren sind die Marktanteile fast aller großen Free-TV-Programme in Deutschland kontinuierlich gesunken. Zunächst entstanden immer mehr Spartenkanäle, dann kam das Internet als konkurrierenden Medium hinzu. In dem Maße, in dem sich die Gesellschaft in immer mehr Teilgruppen zu fragmentieren begann, wurde das TV-Programmangebot in Deutschland ausdifferenziert. Unter den Folgen litten vor allem die großen Programme: RTL war seit 1995 zwar in sieben Jahren Marktführer, verlor aber dennoch im Jahresdurchschnitt mehr als vier Prozentpunkte an die Konkurrenz. ARD und ZDF büßten in den vergangene zwölf Jahren insgesamt etwa einen Prozentpunkt beim Marktanteil ein.

Ü Messung mit Telecontrol XL

Verliert ein Programm Zuschauer, gehen schnell Einnahmen verloren. Das wirtschaftliche Grundmodell der Free-TV-Branche ist ebenso einfach wie riskant: Je mehr Zuschauer ein Programm erreicht, desto höher sind die Werbeeinnahmen. Um verlässliche Daten zu ermitteln, unterhalten ARD und ZDF gemeinsam mit der RTL Group und der ProSiebenSat.1 Media AG die Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF). Die 1988 gegründete Kooperation beauftragt mit der Messung der Marktanteile die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), die dafür jährlich knapp zwanzig Millionen Euro erhält.

Ermittelt werden die Daten mithilfe des Messsystems Telecontrol XL. Rückgrat dieser Technik sind elektronische Geräte („GfK-Meter“), die in 5.640 repräsentativ ausgewählten Haushalten (davon 1.026 in Nordrhein-Westfalen) mit etwa 13.000 Personen stehen. Dort müssen sich alle Haushaltsmitglieder während des TV-Konsums einloggen und jeden Programmwechsel dokumentieren. Das System registriert auch die Nutzung von Teletext, Videos und Videospielen. Die Daten werden nachts automatisch abgerufen und aufbereitet. Morgens gegen 9 Uhr stehen sie dann den Programmanbietern zur Verfügung.

Das GfK-Panel gilt als repräsentativ für 73,42 Millionen Personen in 34,83 Millionen deutschen Privathaushalten. Der TV-Konsum eines Test-Haushaltes, so versprechen die Marktforscher, entspricht dabei statistisch dem Verhalten von etwa 6.000 weiteren. Über die Intensität der Nutzung oder die Bewertung einzelner Sendungen durch die Zuschauer aber sagen die GfK-Daten nichts aus. Sie zeigen lediglich an, welche TV-Kanäle wie lange eingeschaltet werden. Schläft ein Panel-Zuschauer ein oder verlässt den Raum, ohne sich abzumelden, hilft das der Quote des jeweils eingeschalteten Kanals – auch wenn von einer echten Nutzung nicht die Rede sein kann.

Ü Digitale Herausforderungen

Um die Qualität der erhobenen Daten zu kontrollieren, setzt die AGF etwa alle zwei Jahre auf stichprobenartige Kontrollanrufe bei den Panel-Haushalten. Darüber hinaus ermittelt ein Meinungsforschungsinstitut in regelmäßigen Abständen (zuletzt 2006) eigene Daten. Bislang, so heißt es, hätte sich die GfK-Methode stets als zuverlässig erwiesen.

Dennoch bleiben Forschungslücken: Seit zwei Jahren berücksichtigt das GfK-Panel zwar auch das Nutzungsverhalten der im Bundesgebiet wohnenden EU-Ausländer. Über die Reichweite in Deutschland lebender Bevölkerungsgruppen aus anderen Ländern aber geben die Daten keine Auskunft. Auch Nutzungsformen wie Public Viewing, Handy-TV oder zeitversetzter TV-Konsum über Private Video Recorder (PVR) lassen sich zurzeit noch nicht erfassen.

Textfeld: Ü TV-Marktanteile 1995-2006
 	1995	1996	1997	1998	1999	2000	2001	2002	2003	2004	2005	2006
Öffentlich-rechtliche Programme
ARD	14,6 	14,8 	14,7 	15,4 	14,2 	14,3 	13,7 	14,2	14,0	13,9	13,5	14,2
ARD III	  9,7 	10,1 	11,6 	12,3 	12,5 	12,7 	13,0 	13,1	13,4	13,7	13,6	13,5
ZDF	14,7 	14,4 	13,4 	13,6 	13,2 	13,3 	13,0 	13,8	13,2	13,6	13,5	13,6
Kinderkanal	 	 	  0,6 	  0,9 	  1,3 	  1,2 	  1,2 	  1,1	  1,2	  1,2	1,2	  1,1
3sat	  0,9 	  0,9 	  0,9 	  0,9 	  0,9 	  0,9 	  0,9 	  0,9	  1,0	  1,0	1,0	  1,0
Phoenix	 	 	 	  0,3 	  0,4 	  0,4 	  0,5 	  0,5	  0,5	  0,5	0,6	  0,7
arte	  0,2 	  0,3 	  0,3 	  0,3 	  0,3 	  0,3 	  0,4 	  0,4	  0,3	  0,4	0,5	  0,5
Privatwirtschaftliche Programme
RTL	17,6 	17,0 	16,1 	15,1 	14,8 	14,3 	14,8 	14,6	14,9	13,8	13,2	12,8
Sat.1	14,7 	13,2 	12,8 	11,8 	10,8 	10,2 	10,1 	  9,9	10,2	10,3	10,1	  9,8
Pro 7	  9,9 	  9,5 	  9,4 	  8,7 	  8,4 	  8,2 	  8,0 	  7,1	  7,1	  7,0	  6,7	  6,6
Vox	  2,6 	  3,0 	  3,0 	  2,8 	  2,8 	  2,8 	  3,1 	  3,3	  3,5	  3,7	  4,2	  4,8
RTL 2	  4,6 	  4,5 	  4,0 	  3,8 	  4,0 	  4,8 	  4,0 	  3,9	  4,7	  4,9	  4,2	  3,8
Kabel 1	  3,0 	  3,6 	  3,8 	  4,4 	  5,4 	  5,5 	  5,0 	  4,5	  4,2	  4,0	  3,8	  3,6
Super RTL	 	  2,1 	  2,3 	  2,9 	  2,8 	  2,8 	  2,8 	  2,4	  2,7	  2,7	  2,8	  2,6
tm3/9 Live	 	 	  0,3 	  0,6 	  1,0 	  1,0 	  0,5 	  0,4	  0,3	  0,2	  0,2	  0,2
DSF	  1,3 	  1,1 	  1,2 	  1,1 	  1,3 	  1,2 	  1,0 	  0,9	  1,1	  1,1	  1,2	  1,0
Eurosport	  1,2 	  1,2 	  1,1 	  1,1 	  1,1 	  1,0 	  0,9 	  0,8	  0,9	  0,9	  0,9	  0,9
n-tv	  0,3 	  0,3 	  0,5 	  0,6 	  0,7 	  0,7 	  0,7 	  0,6	  0,6	  0,5	  0,6	  0,6
N24									  0,4	  0,4	  0,6	  0,8
MTV									  0,5 	  0,4	  0,4	  0,4
MTV2/Nick									  0,3	  0,3	  0,3	  0,4
Viva										  0,4	  0,5	  0,5
Viva Plus										  0,3	  0,3	  0,3
Tele 5										  0,3	  0,4	  0,6
Das Vierte												  0,6
Quelle: AGF/GfK
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Das Fernsehen der Zukunft macht des der GfK nicht leicht: Im analogen Bereich können Messverfahren einfach die Nutzungsintervalle über die Erfassung einzelner Sendefrequenzen dokumentieren. Damit ist es in der digitalen Welt vorbei, weil Multiplex und Datenreduzierung es ermöglichen, jeweils mehrere Programme über einen Kanal zu verbreiten. Also muss die Messtechnik demnächst komplett ausgetauscht werden.

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Sollten in Zukunft noch mehr Nischenprogramme entstehen, werden die Messergebnisse immer unschärfer. Soll nämlich ein Angebot mit einem Zuschauer-Marktanteil von nur 0,1 Prozent ebenso präzise gemessen werden wie ein Programm mit einem Prozent, müsste das Panel größer sein, weil sich Stichprobenfehler tendenziell etwas stärker bei Programmen mit sehr geringen Marktanteilen auswirken.

AGF und GfK haben inzwischen auf die Herausforderungen der Digitalisierung reagiert. Bis 2009 soll jährlich ein „mittlerer einstelliger Millionen Euro-Betrag“ investiert werden, um die GfK-Technik aufzurüsten. In den kommenden Monaten werden die repräsentativ ausgewählten Haushalte bis 2009 sukzessive mit der neuen Technik namens „Telecontrol Score“ ausgestattet. So lässt sich bald auch der TV-Konsum via DVB-T oder PVR erfassen. Bei Festplattenrecordern soll sogar ermittelt werden, ob Zuschauer Werbeblöcke überspringen („Ad-Skipping“) oder Programmelemente im schnellen Vorlauf („Time Shift“) sehen. Sogar der Fernsehkonsum von privaten Gästen der Panel-Haushalte kann berücksichtigt werden.

Ü Nachrüstung erforderlich

Das aber reicht nicht aus: In jedem Fall muss das Test-Panel in nächster Zeit vergrößert werden. Ob künftig auch IPTV und mobiles Fernsehen (Handy-TV) berücksichtigt werden, will die AGF von der weiteren Marktdurchdringung dieser Technologien abhängig machen. Grundsätzlich, so heißt es beim System-Hersteller Telecontrol, verarbeite die neue Generation der Messgeräte auch IPTV- und HDTV-Signale. Beim mobilen Empfang per Handy könnten die Nutzungsdaten mit Hilfe von unsichtbaren SMS übermittelt werden.

Die verbesserte Messtechnik allein aber wird den Free-TV-Markt nicht vor großen Veränderungen bewahren. Vor allem das Internet macht der Branche derzeit nämlich Kopfzerbrechen. Einerseits erlauben Klickraten eine präzise Reichweitenermittlung und Rückkanäle aufschlussreiche Online-Publikumsdaten, die denen der Fernsehforschung mindestens ebenbürtig sind. Andererseits entwickelt sich das World Wide Web selbst zur TV-Plattform. IPTV ermöglicht sowohl eine riesige Kanalvielfalt als auch die zuverlässige Erfassung von Nutzungsdaten. Die Fragmentierung des TV-Marktes schreitet also sowohl hinsichtlich der inhaltlichen als auch der technologischen Angebote fort.

Ü Kumulierte Marktanteile

Unschärfen bei der Zuschauerforschung ergeben sich auch aus dem Trend, dass Inhalte immer häufiger nicht bei der Erst- oder Live-Ausstrahlung gesehen, sondern erst später über weitere Plattformen genutzt werden. So finden sich etwa TV-Sendungen komplett oder in Teilen in Near-Video-on-Demand-Angeboten und bei Video-Portalen im Internet, auf privaten Festplatten-Recordern oder DVDs. Dieser Umstand wirft die Frage auf, ob mit dem Begriff Marktanteil auch künftig noch das Nutzungsverhältnis zwischen verschiedenen gleichzeitigen Sendungen (oder Zeit-Intervallen) bezeichnet werden kann. Müsste als Marktanteil nicht im Grunde die kumulierte Nutzung ausgewiesen werden, die durch die Addition aller Nutzungsvarianten ausgestrahlter Inhalte resultiert? Solche Messungen aber sind teuer, Hochrechnungen wären spekulativ. Immerhin: Wahrscheinlich werden ab 2009 alle privaten Aufzeichnungen, die bis zu drei Tage nach der Erstausstrahlung angesehen werden, bei der GfK-Quotenmessung berücksichtigt.

Trotz aller Aufrüstung dürfte der Druck auf das GfK-System weiter steigen. Zuschauerdaten werden für die Programm- und Werbeplanung immer wichtiger. Wer Millionen-Beträge für Werbespots ausgibt, will Zielgruppen möglichst optimal erreichen und Streuverluste verhindern. Weil Nutzer im Internet automatisch gut sichtbare Datenspuren hinterlassen, werden Online-Medien für die Werbewirtschaft immer interessanter. Da könnte das Fernsehen rasch ins Hintertreffen geraten.

Ü Grundverschlüsselung

Kein Wunder, dass der Satellitenbetreiber Astra auf die Grundverschlüsselung setzt. Ähnlich wie im Internet und auch im TV-Kabelnetz sollen Angebote einzeln adressierbar werden, woraus zugleich genauere Nutzungsdaten resultieren. Die gemeinsame digitale Plattform Entavio wäre aus Sicht von RTL, Sat.1 & Co. in dieser Beziehung eine ideale Lösung gewesen. Deshalb setzen viele TV-Manager auch weiterhin auf die Grundverschlüsselung. Dabei spielt folgende Überlegung eine zentrale Rolle: Nur die Adressierbarkeit macht es möglich, den Empfang von Sendungen oder Kanälen einzeln abzurechnen. Angesichts stagnierender Werbeeinnahmen könnte dies für einige Programme eine weitere Einnahmequelle und die Befreiung vom Quotendruck bedeuten.