Digitalisierung und schnelle Online-Verbindungen machen es möglich: Die Übertragung von TV-Inhalten via Internet bringt den klassischen Rundfunk-Begriff ins Wanken. Das neue Zauberwort im Reich des Digitalen heißt IP-TV. Die beiden Buchstaben IP bedeuten Internet Protocol und damit den Online-Transport von Fernsehsignalen.

Lange scheiterte die Konvergenz von TV und PC an breitbandigen Internet-Verbindungen oder geeigneten Endgeräten, die digitale Daten bedienungsfreundlich in Fernsehbilder verwandelten (4 siehe Artikel DSL macht dem Fernsehen Konkurrenz). Beide Engpässe scheinen inzwischen überwunden. Möglich wird die „Heirat von Glotze und Netz“ (Der Spiegel) durch die ständig steigende Transportkapazität der DSL-Telekommunikationskabel und durch eine neue Generation von Set-Top-Boxen. Bei der Internationalen Funkausstellung in Berlin (IFA) wurden im vergangenen Jahr erstmals mehrere Modelle (Preis: etwa 500 bis 1000 Euro) vorgestellt, die eine Übertragung von aus dem Internet gestreamten Bildern auf den Fernseher ermöglichen. War früher lange unklar, ob sich der PC oder das Fernsehgerät besser für das IP-TV eignet, scheint diese Frage inzwischen eindeutig zugunsten des TV-Monitors geklärt. Der Computer wird bei den meisten IP-TV-Modellen nur noch als Vermittlungsstelle für das Internet benötigt, das Entertainment aber findet auf dem Fernsehbildschirm statt.

Im Idealfall übernehmen Set-Top-Boxen die PC-Funktionen gleich mit und verwandeln den IP-Datenstrom in normale Fernsehbilder. Voraussetzung bei einer Datenreduzierung per MPEG 4 sind internetfähige Kabel-Verbindungen mit einer Bandbreite von mindestens etwa vier Megabit pro Sekunde (Mbit/s). Der Programmwechsel dauert allerdings meist noch mehrere Sekunden, weil Daten erst im Hintergrund gepuffert werden müssen. Sonst aber fällt der Unterschied zwischen TV und IP-TV kaum auf, und die Abgrenzung zwischen Datendiensten und Rundfunk wird schwieriger. Während On-Demand-Angebote meist dem Internet und damit dem Mediendienste-Staatsvertrag zugeordnet werden, gilt Live-Streaming als Rundfunk.

Ü Breite Palette interaktiver Angebote

Die neuen IP-Fernsehangebote haben – wie das Internet – den Vorteil eines Rückkanals. Der TV-Zuschauer kann deshalb interaktiv an Gewinnspielen und Umfragen teilnehmen, in virtuellen Warenhäusern einkaufen oder gezielt bestimmte Inhalte unabhängig von vorgegebenen Programmfolgen abrufen. Anbieter von IP-TV-Formaten wittern den Vorteil, dass Zuschauer und Nutzer im Internet Spuren hinterlassen. Wird die Online-Nutzung präzise analysiert, lassen sich Content und Werbung (bis hin zum Direktmarketing) speziell konfektionieren. Solche Strategien nutzen beispielsweise so genannte Community-Dienste (C-TV), die parallel zum Fernsehprogramm für bestimmte Benutzergruppen Special-Interest-Inhalte, Chat-Funktionen oder ins TV-Bild integriertes Overlay-Gaming bieten. Murdochs virtuelle Netzwerk-Plattform MySpace hat weltweit bereits etwa sechzig Millionen Nutzer, verfügt über ein eigenes Musik-Label und könnte zusätzlich rasch zu einer riesigen IP-TV-Videothek ausgebaut werden.

Aktuelle Marktforschungs-Ergebnisse beschwören bereits eine Fernsehrevolution:

·          Die amerikanische Medienforschungsagentur ABI Research schätzt, dass 2010 weltweit zwölf Prozent aller Fernsehzuschauer IP-TV nutzen. Analysten von Informa Telecoms & Media prognostizieren, dass der weltweite Umsatz mit IP-TV bis 2010 auf zehn Milliarden Dollar wachsen wird.

·          Die Medienberater von Screen Digest und Goldmedia sagen für das Jahr 2009 europaweit 8,7 Millionen Abonnenten für das Fernsehen via Internet voraus und im Pay-TV-Geschäft einen IP-TV-Marktanteil von 9,4 Prozent.

·          Für Deutschland rechnet Goldmedia mit 1,3 Millionen IP-TV-Kunden im Jahr 2010, und die Unternehmensberatung Mercer beziffert das IP-TV-Volumen im selben Jahr auf etwa eine Milliarde Euro.

Ü US-Markt mit Vorreiter-Rolle

Um die Kombination aus Klicken und Zappen zum Massenmarkt zu machen, arbeiten Medien- und Telekommunikationskonzerne eifrig an neuen Angeboten fürs Internet-Fernsehen. In den USA schmiedeten Ende des vergangenen Jahres fast alle großen TV-Networks Allianzen, um Fernsehware als Video-on-Demand (VoD) auch online zu vermarkten. CBS kooperiert mit dem Kabelnetzbetreiber Comcast, NBC arbeitet mit Rupert Murdochs Satellitenfernsehen DirecTV zusammen, ABC (Walt Disney) sowie NBC schlossen Bündnisse mit Apple, und Time Warner will, dass die Hollywood-Archive von Warner Brothers endlich den konzerneigenen Online-Dienst AOL als Vermarktungsplattform nutzen.

Seit ein paar Wochen können sich AOL-Kunden in den USA über das Angebot In2TV Episoden von etwa 300 TV-Serien anschauen. Der Zugang zu einem riesigen Archiv von Warner Bros. mit 18.000 Filmen und Folgen alter Fernseh-Soaps ist kostenlos, die Finanzierung erfolgt über Werbung (15-30 Sekunden je 30-Minuten-Folge). Apple, ABC und NBC vermarkten Programme im Internet über Apples erfolgreichen iTunes Music Store. Für 1,99 Dollar pro Download können seit Oktober 2005 Serien, Kurz- und Trickfilme oder Video-Clips heruntergeladen werden. Aktuelle Folgen von Quoten-Knüllern wie „Desperate Housewives“ (ABC) oder der „Tonight-Show“ mit Jay Leno (NBC) stehen bereits einen Tag nach der Erstausstrahlung für Besitzer von Apples Video-iPod (Speicherkapazität: bis zu 150 Stunden) zur Verfügung.

Ü Fehlende Bandbreite

Comcast bietet seinen Kabelkunden Tausende von Filmen – darunter seit Januar auch CBS-Ware – für 99 Cent an und setzt bei der Finanzierung zusätzlich auf Werbeeinnahmen. Das Herunterladen kompletter Filme dauert oft bis zu dreißig Minuten. Besitzer von digitalen Videorecordern haben dann allerdings den Vorteil, dass sie alle Werbespots leicht überspringen können.

Anders als in den USA, mangelt es in Deutschland noch an vermarkteten Internet-Anschlüssen mit für IP-TV ausreichender Bandbreite. Inzwischen existieren zwar etwa zehn Millionen DSL-Haushalte, doch davon begnügen sich etwa neunzig Prozent mit einer Bandbreite von 1 Mbit/s. Der Anteil von internetfähigen TV-Kabelanschlüssen, die außer Fernsehprogrammen auch Leitungen für Internet und Telefon bieten („Triple Play“), ist gering. Ende vergangenen Jahres gab es nur etwa 150.000 solcher Verträge in Deutschland. Nach Schätzungen des Branchenverbands Bitkom machten deutsche Internet- und Medienunternehmen sowie Kabelnetzbetreiber 2005 etwa 90 Millionen Euro Umsatz mit IP-TV.

 
4DSL-Marktführer   

 

DSL-Kunden (Mio.)

T-Online

             4,5

United Internet

             1,9

Arcor

             1,2

AOL

             1,1

Freenet

             0,7

Hansenet

             0,5

Tiscali

             0,25

Versatel/Tropolys

             0,25

Netcologne

             0,2

Quelle : Unternehmensangaben

 

 

Wegen des großen Free-TV-Angebotes und der geringen Zahl von Triple-Play-Haushalten hinkt Deutschland beim IP-TV im Europa-Vergleich noch hinterher. In Frankreich liegt der entsprechende Umsatz dreimal höher. So hat die France Telecom zum Beispiel seit 2003 mit ihrem Triple-Play-Paket MaLigne TV mehr als 130.000 VoD-Abonnenten gewinnen können. Der britische Web-Dienstleister Homechoice bietet IP-TV-Kunden außer Tausenden von Filmen und Musik-Videos (2 bis 3,50 Pfund) auch den Service, alle verpassten Fernsehsendungen binnen einer Woche via Online-Verbindung nachzuliefern. Die englische Pay-TV-Plattform BSkyB öffnet ihren Abonnenten zurzeit ein Online-Archiv mit Klassikern wie „Spiderman 2“ oder „The Day after Tomorrow“, die ohne Aufpreis auch auf die eigene Festplatte heruntergeladen werden dürfen. Dieses Gratis-Angebot startete im Januar für alle BSkyB-Kunden, die mindestens zwei der Sky-Premium-Kanäle abonniert haben. Zwei britische Lokalstationen der ITV-Senderkette übertragen ihre Programme seit vergangenen Herbst ebenfalls online.

Ü Video on Demand per Internet

Deutscher VoD-Marktführer ist das vor zwei Jahren gestartete Portal T-Online Vision, das pro Monat etwa 80.000 Abrufe meldet. T-Online-Kunden, die mit Multimedia-Boxen von Fujitsu Siemens, Samsung, Humax oder Bose ausgestattet sind, erhalten Filme zu Preisen zwischen 0,95 und 3,95 Euro. Außerdem bietet T-Online Vision Zugang zu einem ProSiebenSat.1-Portal mit 200 Programmstunden (ab 0,95 Euro pro Einzel-Download) und samstags ab 18 Uhr dreiminütige Sequenzen zu allen Spielen der Fußball-Bundesliga (3,95 Euro pro Monat). Durch Kooperationen mit Universal, MGM, Dreamworks und der deutschen Constantin Film AG kann T-Online den Kunden eine Auswahl von bis zu 800 Filmen aller Genres zur Verfügung stellen. Internet und Fernsehen sollen so zum Heimkino werden. Anders als früher muss bei neuen Set-Top-Boxen inzwischen auch kein Kabel mehr quer durch die Wohnung vom Computer zum Fernseher gelegt werden, weil sich T-Vision-Signale auch per Funk zum TV-Gerät übertragen lassen.

Die ProSiebenSat.1 Media AG stellte während der CeBIT in Hannover ein weiteres Projekt vor, das noch in diesem Jahr starten soll: Gemeinsam mit der United Internet AG plant die Sendergruppe ein VoD-Portal namens Maxdome. Der Abruf von Hollywood-Filmen und TV-Serien soll sowohl als Abonnement als auch per Einzel-Streaming angeboten werden. United Internet erreicht über seine Online-Marken 1&1, Web.de und GMX etwa 18 Millionen Internet-Nutzer und will für die VoD-Angebote eine eigene Set-Top-Box von Thomson auf den Markt bringen. Bereits 2001 stieg Arcor in den VoD-Markt ein und bietet inzwischen etwa 1.300 Spielfilme, Dokumentationen oder E-Learning-Videos für Microsofts Windows XP Media Center Edition mit direkter Abbildung auf einem angeschlossenen TV-Gerät an. Die Preise pro Abruf liegen zwischen 1,49 und 3,50 Euro.

Ü Begrenzte Nutzungsrechte

Sowohl bei Arcor als auch bei T-Online Vision verfallen für die Kunden jeweils nach 24 Stunden alle Nutzungsrechte. Weil viele Filmfans von Beträgen zwischen 1,50 und 7,00 Euro pro Streaming abgeschreckt werden, setzte das Portal One4Movie der Münchner Afendis AG als einzige große Online-Videothek in Deutschland von Anfang an auf eine Flatrate: Für monatlich 9,95 Euro stehen 670 Filme zur Auswahl, die über die Windows XP Media Center Edition 2005 mit Intels neuem Standard ViiV genutzt werden können.

Zurzeit verhandeln alle großen Telekommunikations-Gesellschaften in Europa mit TV-Programmanbietern, um sich umfangreiche IP-TV-Rechte zur Weiterverbreitung über DSL zu sichern. So schloss der spanische Konzern Telefónica (O2), der seine Breitband-Kabel unter anderem den Online-Providern AOL, Freenet und Hansenet zur Verfügung stellt, Anfang des Jahres einen Vertrag mit der RTL Group. In der zweiten Jahreshälfte bereits will Telefónica RTL-Inhalte via IP-TV über DSL-Anschlüsse vermarkten und bezahlt Europas größtem Broadcasting-Unternehmen für jeden IP-TV-Kunden eine Gebühr. Auch die Telekom sicherte sich bereits die Einspeiserechte von RTL Group und ProSiebenSat.1.

Ü Neuer Markt für Sparten-Angebote

Außer den großen Medien- und Telekommunikationskonzernen sind in der IP-TV-Branche inzwischen auch einige neue Akteure im Spiel. So erreicht die Artvoice-Firmengruppe in Unterföhring bei München mit ihren mehr als 200 IP-TV-Kanälen nach eigenen Angaben bereits etwa drei Millionen Zuschauer. Für Bandbreiten von mindestens 500 kBit/s werden Web-Channels zu Spezialgebieten angeboten. Das Spektrum reicht vom Kunden- oder Mitarbeiter-Programm über Beratungs-Formate bis zum Erotik-TV. Artvoice-Geschäftsführer Ingo Wolf prognostiziert, dass es in zwei Jahren 3.000 neue IP-TV-Programme in Deutschland geben wird.

Dass klassisches Fernsehen und IP-TV auch für die Zuschauer bald kaum noch unterscheidbar sind, hofft auch die Deutsche Telekom. Das Bonner Unternehmen hat sich die Online-Rechte für die Fußball-Bundesliga gesichert und zahlt dafür pro Spielzeit etwa 45 Millionen Euro. Sollte die Telekom ihren Plan verwirklichen, demnächst mit VDSL-Leitungen Bandbreiten von bis zu 50 Mbit/s zu erreichen, wären endlich auch Live-Streams in bester TV-Qualität möglich. Die Telekom wird für ihr Internetfernsehen die von Microsoft entwickelte Software IPTV Edition einsetzen.

Ü Viele offene Zukunfts-Fragen

Noch aber, so fanden die Unternehmensberater von Accenture heraus, ist IP-TV für etwa 46 Prozent der Deutschen völlig unbekannt. Sollte sich das Internet allerdings als TV-Plattform durchsetzen, geriete die Fernsehwelt ins Wanken: Feste Sendepläne und -zeiten („Programmuhren“) wären angesichts virtueller Videotheken obsolet. Der Zuschauer soll zum Programmdirektor werden, der sich je nach bedarf oder Bedürfnis die richtige Mischung aus Sport und Show, Serie und Service zusammenstellt. Fernsehen könnte vom Massenmedium zur individualisierten Multimedia-Plattform mutieren, deren Nutzung mehr (Inter-)Aktivität bieten und erfordern würde. Ob und wie erfolgreiche IP-TV-Geschäftsmodelle aber funktionieren könnten, ist noch völlig unklar. Werbung, Abo-Dienste, Bezahlung pro Kanal oder pro Sendung, käuflicher Download oder Digital-Verleih mit Kopierschutz? Das alles sind noch ungeklärte Fragen.